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Mehr Flüchtlinge – Mehr Gewalt

Donnerstag, 3. März 2011 16:52

Am 2.3.2011 orakelt der Online-Tagesanzeiger in fetter Überschrift:

Decken Sie sich also sicherheitshalber umgehend mit Notvorrat für mehrere Jahre ein, verstecken Sie Ihr Geld unter der Matratze, holen Sie die Kinder rein und verrammeln Sie sämtliche Fenster und Türen.

Kausalität scheint schneller als man denkt

Bevor Sie jedoch die Selbstschussanlage in Betrieb nehmen, wollen wir gemeinsam kurz den erklärenden Text unter der Schlagzeile untersuchen und uns ein eigenes Urteil statt eines möglichen Vorurteils bilden. Sicher ist sicher. Vielleicht ist es ja doch nicht ganz so schlimm. Hören wir genau hin:

«Laut Killias [Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Zürich] hat Zürich eine ähnliche Erfahrung Ende der 90er-Jahre gemacht, als Tausende von Flüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien in die Schweiz kamen. Damals stiegen vor allem die Gewaltdelikte an. Zeigen lässt sich das an der Gewaltstudie der Suva, der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt. Zwischen 1997 und 2005 verdreifachten sich <Unfälle> durch Gewalteinwirkung wie Rauferei, Streit, Überfall und kriminelle Handlungen bei jungen Männern.»

Wir kombinieren Haarscharf:

Mehr Flüchtlinge => Mehr Gewaltdelikte

Spätestens jetzt – nachdem wir die offensichtlichste kausale Verknüpfung gemeinsam hergestellt haben – rennt der mehrheitskompatible Leser auf schnellstem Holzweg zu seiner Hochsicherheitswohnung. Er hat es geahnt. Wenn nicht gar gewusst.

Klingt ja auch alles ganz plausibel und wird offenbar von einem Professor bestätigt. Aber werden hier tatsächlich Ursache und Wirkung abgebildet?

Nein. Zumindest nicht unbedingt. Die Aussagen «…stiegen vor allem die Gewaltdelikte…» und «…verdreifachten sich <Unfälle> durch Gewalteinwirkung…» benennen keine konkrete Täterschaft und lassen keinen zwingenden Schluss wie den oben gezogenen zu. Alles was man aus diesem Abschnitt ableiten kann – sofern die herangezogenen Statistiken stimmen – lautet: In den 90er-Jahren gab es mehr kriminelle Handlungen UND es kamen mehr Flüchtlinge. Das kann, muss aber keinesfalls bedeuten: In den 90er-Jahren gab es mehr kriminelle Handlungen WEIL mehr Flüchtlinge kamen.

Niemand würde ähnlich schnelle Rückschlüsse ziehen, wenn in einer anderen (hypothetischen) Statistik stünde, dass sich in den 90er-Jahren (parallel zu mehr Flüchtlingen) beispielsweise der Umsatz der Schweizer Juweliere verdoppelt hat. Oder die Gletscher in dieser Zeit überdurchschnittlich stark schmolzen.

Drum prüfe, wer was komisch findet

Ohne Angabe der genauen statistischen Quellen* ist es für den Leser unmöglich, sich ein unvoreingenommenes Urteil zu bilden. Trotzdem haben wir schon nach einem kurzen Blick auf den Text eine vermeintlich durch Fakten untermauerte Einsicht gewonnen. «Flüchtling» und «Kriminalität» scheinen einfach zu verlockend logisch zusammen zu hängen.

Die Meinung ist gemacht und schon wird fleissig mit möglicherweise verzerrten bis falschen Fakten Argumentiert, bis die Verknüpfung sich auch im letzten Kopf festgesetzt hat. Die Konsequenz für die Flüchtlinge aus Nordafrika kann man ausformuliert im oben verlinkten Forum des Tagi-Beitrages nachlesen: Nordafrika > Ausländer > junge Männer > alles Betrüger > Gewalt > Schweiz > Grenzen dicht > ist nicht mein Problem.

Genau deshalb sollten wir bei behaupteten oder angedeuteten kausalen Zusammenhängen immer besonders genau hinschauen und die Aussagen auf ihre Plausibilität prüfen. Meist ergibt sich beim zweiten Blick ein anderes Bild, als das zunächst offensichtlich scheinende.

Bringen Sie also die Kinder wieder raus und sehen Sie der möglichen Ankunft von Flüchtlingen gelassen entgegen.

Nicht alle Verzerrungen und Verwischungen sind so offensichtlich, wie in diesem Beispiel. Manche scheinen auch nach dem zweiten Blick noch logisch. Falls Sie sich für die vielfältigen Möglichkeiten der Manipulation interessieren, mein Buchtipp für einen unterhaltsamen Einstieg in die Welt der Statistik:

«Lügen mit Zahlen – Wie wir mit Statistiken manipuliert werden»
Gerd Bosbach und Jens Jürgen Korff
ISBN: 978-3-453-17391-0

* Die genauen Statistiken wurden trotz zweifacher Nachfrage im Tagesanzeiger-Forum nicht genannt. Die Frage wurde Ignoriert und im Forum nicht publiziert.

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Thema: Buchtipps, Fragen, Schweiz | Kommentare (2) | Autor:

Flüchtlinge go home

Mittwoch, 23. Februar 2011 7:59

In der aktuellen Diskussion über die Lage in Nordafrika und im Nahen Osten mehren sich die Stimmen, die sich für ein hartes Vorgehen gegen Flüchtlinge aussprechen. Die Angst vor einer massiven Flüchtlingswelle geistert wieder durch die Köpfe.

Das Boot ist voll

Man liest wieder Forumsbeiträge der Sorte: «Das sind doch eh die meisten keine echten Flüchtlinge. Die wollen es sich nur auf unsere Kosten gemütlich machen. Ist euch auch schon aufgefallen, dass vor allem junge, starke Männer über die Grenze kommen? Wo bleiben denn die Frauen, Kinder und die Alten?»

Berechtigte Fragen, wenn man ein Das-Boot-Ist-Voll Argument braucht. Trotzdem seien hier spontan zwei kurze Antworten angeführt. Vielleicht hilft es ja als Gegenargument, wenn Sie irgendwo auf solche Fragen stossen.

Zwei kurz notierte Gründe

  1. Schlepper sind teuer. Eine Reise nach Europa kostet mehrere Tausend Euro. Welcher Flüchtling könnte sich das alleine leisten? Keiner. Drum legen ganze Familien bis hin zu Dörfern zusammen und bezahlen dem Kräftigsten die Reise. Damit er in Europa eine Arbeit finden und damit die ganze daheimgebliebene Familie finanziell unterstützen kann. Tatsächlich soll das von Privaten nach Hause geschickte Geld das Vierfache der Ausgaben der internationalen Entwicklungszusammenarbeit betragen.
  2. Die Flucht nach Europa ist anstrengend und gefährlich. Schon für kräftige und gesunde junge Männer sind die Reisestrapazen enorm. Manch einer kommt nie an seinem Bestimmungsort an. Verhungert, verdurstet, erdrückt, zurückgelassen, ausgenommen, ertrunken. Gründe für ein tödliches Scheitern gibt es viele. Verständlich also, wenn sich weniger Frauen mit Kindern oder gar gebrechliche Alte auf den Weg machen. Zudem darf man davon ausgehen, dass die Frauen, Kinder und Alten, die die lange Reise trotzdem antreten ihr Ziel überdurchschnittlich oft nicht lebend erreichen. Und natürlich hat der Schlepper keine Liste seiner irgendwo zurückgelassenen Kunden, so dass man nichts von diesen Frauen, Kindern und Alten erfährt.

Wir können nach sicheren Grenzen rufen um unseren Wohlstand gegen die Ärmsten der Armen zu verteidigen. Ob das Gerecht ist, ist eine Frage. Eine andere ist es, ob sich grosszügige und menschliche Hilfe auf lange Sicht nicht auch für uns in Europa mehr auszahlt, als ein massives Aufgebot von Grenzschützern.

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Thema: Gesellschaft, Mensch, Wirtschaft | Kommentare (0) | Autor:

Frontex – dein Beschützer und Helfer

Sonntag, 20. Februar 2011 12:00

Die Europäische Grenzschutzagentur Frontex nimmt auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ihre Arbeit auf. Und die Schweiz steht den 50 Spezialisten – falls gewünscht – per sofort mit drei Mann zur Seite.

Das ist sehr lobenswert. Wir helfen unserem südlichen Nachbarland Italien, das gerade von Flüchtlingen überschwemmt wird. Und machen uns nach langer Zeit wieder Freunde in Europa. Während wir als Land der hohen moralischen und ethischen Standards wichtige Hilfe leisten.

Was will man mehr? Helfen ist gut. Und mit unserem Einsatz ist allen geholfen. Sollte man meinen. Aber wem wird da genau geholfen? Und was bedeutet «Helfen» in diesem Fall? Der von Frontex gewählte Name der Operation lässt viel Spielraum für persönliche Gedanken.

Operation Hermes

Drei mögliche Interpretationen:

  1. Hermes ist der Schutzgott des Verkehrs und der Reisenden. Schutz für die in überfüllten Fischerbooten reisenden Flüchtlinge. Ganz schön nett, freut sich der Romantiker.
  2. Hermes verkündet als Götterbote zudem die Beschlüsse des Zeus. Das gehört zu den Aufgaben einer Europäischen Organisation. Irgendjemand muss diesen Nordafrikanern ja sagen, was geht und was nicht. Vor allem, was nicht. Nämlich die Flucht aus dem Elend.
  3. Hermes führt aber auch – und hier wird’s ehrlich – die Seelen der Verstorbenen in den Hades (Unterwelt).

Zurück in die Wüste

Warum ehrlich, fragen Sie? Weil Europa schon vor Jahren Verträge über die Rückführung illegaler Einwanderer abgeschlossen hat. Mit Regierungen, die, wie beispielsweise Libyen, die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert haben. Und die – glaubt man verschiedenen Büchern – eigene und ganz pragmatische Vorstellungen von Rückführungen haben.

Zum Beispiel kann man die lästigen Flüchtlinge der Einfachheit halber einem gerade aus dem Süden angekommenen Schlepper übergeben. Die Vertragspartner müssen sich nicht weiter um die Heimreise kümmern. Der Schlepper hat keine unbezahlten Leerfahrten mehr. Und sollte er die Reisenden mitten in der Wüste zurück lassen, werden diese garantiert nicht schon nach kurzer Zeit wieder an der Grenze stehen. Es profitieren also alle. Sogar die Geier und andere hungrige Tiere in der Wüste.

Zynisch? Aber sowas von.

Wobei zu erwähnen bleibt, dass der Autor hier nur laut über eine mögliche Spielart der günstigen Asyl-Politik nachdenkt. Ausgedacht und umgesetzt wird das von anderen. Die sowas verhindern könnten. Wenn sie denn wollten.

Falls sie sich etwas tiefer mit dem Thema «Flüchtlinge» befassen wollen, finden Sie in den folgenden Büchern Einblicke aus verschiedenen Blickwinkeln:

«BILAL – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa» von Fabrizio Gatti
ISBN: 978-3-888-97587-5

«Klimakriege – Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird» von Harald Welzer
ISBN: 978-3-596-17863-6


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Thema: Buchtipps, Gesellschaft, Mensch, Politik, Schweiz | Kommentare (0) | Autor: