Gendergerechte Sprache 1 | Das Chirurgen-Rätsel.

Wann immer man sich mit dem Thema gendergerechte Sprache befasst, stösst man früher oder später auf einige Beispiele, die sich offenbar als besonders einleuchtend durchgesetzt haben. Meist geht es dabei um das Generische Maskulinum.

Unabhängig davon, wie ich zu den verschiedenen Versuchen zur Inklusion mittels Sprache stehe, möchte ich heute mal meine Gedanken zu einem sehr beliebten Argument niederschreiben. Einem, das auf den ersten Blick tatsächlich zu belegen scheint, dass das Generische Maskulinum das Denken manipuliert. (Weitere folgen eventuell später.)

Das Chirurgen-Rätsel

Ein Vater und sein Sohn haben einen Autounfall. Der Vater wird dabei getötet, das Kind schwer verletzt. Als das Kind in den Operationssaal gebracht wird, sagt einer der Chirurgen: «Ich kann diese Operation nicht durchführen, dieser Junge ist mein Sohn.» Wie ist das möglich?

Die Argumentation lautet jeweils sinngemäss: Ich habe das Chirurgen-Experiment in meinem Umfeld durchgeführt. Alle überlegten, wie ein Chirurg ein zweiter männlicher Elternteil des Sohnes sein kann und kamen nicht auf die richtige Antwort. (Es ist die Mutter.) Die daraus abgeleitete Folgerung: Das Generische Maskulinum (einer der Chirurgen) wird immer als männlich wahrgenommen, schliesst alle anderen Geschlechter aus und hat deshalb in unserer Zeit keine Daseinsberechtigung mehr.

Dieses Rätsel führt tatsächlich normalerweise in die Irre. Allerdings sehe ich da zwei Kritikpunkte.

1 | Feinheiten der Sprache / Rätsel oder Geschichte

Jemand, der eine Geschichte erzählt, achtet auf die Feinheiten der Sprache und erzählt die Geschichte möglichst so, dass sie verstanden wird. (Anders naturgemäss bei einem Rätsel.) In diesem Fall würde eine minimale Veränderung alles ändern.

Noch einmal das Rätsel, diesmal als Geschichte formuliert:

Ein Vater und sein Sohn haben einen Autounfall. Der Vater wird dabei getötet, das Kind schwer verletzt. Als das Kind in den Operationssaal gebracht wird, sagt eine Chirurgin: «Ich kann diese Operation nicht durchführen, dieser Junge ist mein Sohn.»

Es gibt bei diesem Beispiel keinen Grund, das Generische Maskulinum zu verwenden. Man spricht von einer konkreten, weiblichen Person und kann das auch so ausdrücken. Problem gelöst. Nicht einmal die Aussage, dass ein bis mehrere weitere Chirurgen (m/w/d) anwesend sind, würde verloren gehen.

Mein Fazit 1: Das Generische Maskulinum sollte nur dort eingesetzt werden, wo es Sinn hat. Es in einem Rätsel in dieser Weise einzusetzen, ist ok. Es aber in dieser (Rätsel-)Form als Argument gegen das Generische Maskulinum zu verwenden, ist meiner Meinung nach unlauter. (Dass ein Rätsel Rätsel aufgibt, sollte nicht verwundern.)

2 | Manipulation / Trickfragen

Neben der unsachgemässen Anwendung des Generischen Maskulinums könnte bei diesem Rätsel ein anderes Phänomen den Effekt noch verstärken. Eine Manipulation durch den Gedankengang zuvor.

Ein kleines Beispiel, das Sie vielleicht auch noch aus Ihrer Kindheit kennen:

  • Welche Farbe hat Schnee?
  • Welche Farbe hat ein Brautkleid?
  • Welche Farbe hat ein Blatt Papier?
  • Was trinkt die Kuh?

Möglicherweise antworteten Sie gerade spontan mit «Milch». Ziemlich sicher aber werden Sie nicht die Kuh dafür verantwortlich machen.

So ähnlich könnte sich auch der Aufbau des Chirurgen-Rätsels auf die Antwort auswirken: Ein, Vater, sein, Sohn, Der, Vater, (Kind, Kind), einer, der, Chirurgen, dieser, Junge, mein, Sohn. (13 von 40 Worten)

Mein Fazit 2: Sprache kann manipulativ sein. Wir lassen uns in die Irre führen, wenn wir nicht aufpassen. Das ist aber nicht die Schuld der Sprache.

Gesunder Menschenverstand

Sprache ist nicht immer eindeutig. Das liegt in der Natur der Sache eines so umfangreichen Baukastensystems. Damit müssen wir leben. Wir wissen trotzdem was zu tun ist, wenn uns jemand beispielsweise sagt, wir sollen ein Hindernis umfahren. Wir werden es umfahren, nicht umfahren. Man muss nur einfach hin und wieder auf den gesunden Menschenverstand hören. Dann ist alles halb so wild*.

Ich erwarte jetzt natürlich nicht, dass Sie ab sofort Ihre Meinung zum Sinn des Generischen Maskulinums ändern. Ich würde mich aber freuen, wenn diese Zusammenfassung meiner Gedanken dazu beiträgt, Argumente mit etwas anderen Augen zu sehen.

Jetzt aber erst mal ein Glas Milch.

* Übrigens: Auch dieses Beispiel ist absichtlich in dieser uneindeutigen Form formuliert. Würde man «… wenn uns jemand sagt, wir sollen ein Hindernis umfahren.» in «wenn uns jemand auffordert, ein Hindernis zu umfahren (oder umzufahren).» ändern, wäre sofort klar, was gemeint ist. Kleine Anpassung, grosse Wirkung. Sprache eben.

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Datum: Freitag, 12. März 2021 11:07
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