Organspende – Widerspruchslösung ja oder nein

Ja, die Regelung der Organspende in der Schweiz ist ein ernstes Thema. Und ja, man darf durchaus dafür werben. Selbst für eine Änderung des aktuellen Spendekarten-Systems hin zu einem System der Widerspruchsregelung. Gerne auch mit aussagekräftigen Zahlen aus einer repräsentativen Umfrage.

Was aber die Krankenkasse Assura in der Pressemappe zur Pressekonferenz zur Organspende vom 5. September 2012 zur Untermauerung der eigenen Überzeugung so vorrechnet, tut beinahe schon körperlich weh.

«Die Versicherten der Assura und der Assura SA befürworten entschieden eine Änderung des aktuellen Systems, um die Organspenden zu fördern. Dies geht aus einer Umfrage hervor, die bei rund 200’000 Kunden, welche die Online-Dienste des Versicherers aus Pully benutzen, durchgeführt wurde.»

Klingt so, als hätte die überwiegende Mehrheit der Versicherten (für genaue Leser die Mehrheit von 200.000 Versicherten) die folgende, erste von drei Fragen mit Ja beantwortet.

«Beantragen Sie, dass das Schweizer Gesetz in dem Sinne geändert wird, dass die Einwilligung des Organspenders bei seinem Todesfall vorausgesetzt wird?»

Mehr Befragte als Antwortende

Tatsächlich wurden nur die 200.000 (der je nach Quelle über 400.000 bis über 600.000) Versicherten befragt, die auch die Onlinedienste nutzen. Und nur gerade verschwindende 5.394 dieser 200.000 befragten Versicherten haben die Fragen auch wirklich beantwortet. Davon 90,5% mit Ja. Wodurch «die Versicherten der Assura und der Assura SA» auf gerundete 4.882 Personen schrumpft und auf die genannten 200.000 befragten Versicherten bezogen nur noch rund 2,4 Prozent (statt der genannten 90,5%-Mehrheit) ausmacht. Beziehungsweise 1,2 Prozent bei 400.000. Oder 0,8 Prozent bei 600.000.

Verzerrung durch Interesse am Thema

Wir wollen nun aber nicht kleinlich sein. Nur noch anmerken, dass die antwortenden 5.394 Personen sich wohl schon vor der Umfrage für das Thema interessierten. Was, wie bei einer TED-Umfrage, durchaus einen zusätzlichen Einfluss auf die hohe Zustimmung haben dürfte.

Frage nach der Bereitschaft

Nicht minder interessant ist die Aussagekraft der Antworten auf die zweite Frage.

«Wären Sie bereit, sich als Spender in eine zentralisierte Datei einzuschreiben?».

Diese wird laut Pressemappe von 96,8% der antwortenden 5.394 Versicherten mit Ja beantwortet. Hier darf man sich – zusätzlich zu der tatsächlichen Prozentzahl – fragen, ob der Willensäusserung auch immer die entsprechende Tat folgt. (Sie tut es nicht.) Beziehungsweise, ob – allenfalls, warum nicht – die 5.221 willigen Spender schon Spender sind.

Und – das aber nur nebenbei – warum sie, falls schon Spender, die Änderung des aktuellen Systems mehrheitlich befürworten, wenn es doch offenbar auch so geht.

«Wenn ja», die mathematische Untermenge

Den Kopf noch nicht genug geschüttelt? Sehen wir uns noch einen weiteren, in der Pressedokumentation prominent platzierten Satz an. Hier entsteht der Fehler durch eine nicht berücksichtigte mathematische Teilmenge.

«Über 85% der Versicherten befürworten eine generelle Entnahme der Organe, Gewebe und Zellen beim Todesfall. Rund 15% der befragten Personen wären bereit, nur die Entnahme einzelner Organe, Gewebe oder Zellen zu bewilligen.»

Diese nicht nur verzerrte, sondern tatsächlich falsche Aussage entstand wohl in zwei Schritten. (Um es nicht noch komplizierter zu machen, weisen wir nur darauf hin, dass hier inhaltlich die «Über 85% der Versicherten» 400.000 bis 600.000 Personen den «15% der befragten» 200.000 Personen gegenübergestellt werden.)

Schritt 1:

96,8 Prozent der antwortenden Befragten antworteten auf die oben besprochene Frage Nummer 2 mit Ja.

«Wären Sie bereit, sich als Spender in eine zentralisierte Datei einzuschreiben?»

Schritt 2 (Vorsicht):

«Wenn ja» befürworten davon 85,3 Prozent, dass

«beim Todesfall alle Organe, Gewebe und Zellen entnommen und die entsprechenden vorbereitenden medizinischen Massnahmen getroffen werden können.»

Während 14,7 Prozent davon dafür sind, dass

«beim Todesfall bestimmte Organe, Gewebe und Zellen entnommen und die entsprechenden vorbereitenden medizinischen Massnahmen getroffen werden können.»

Heisst eigentlich, zugegebenermassen etwas umständlich formuliert: «Über 85% der 96,8% der antwortenden 5.394 Versicherten, die bereit sind, sich als Spender in eine zentralisierte Datei einzuschreiben, befürworten eine generelle Entnahme der Organe, Gewebe und Zellen beim Todesfall. Rund 15% der 96,8% der antwortenden 5.394 befragten Personen, die bereit sind, sich als Spender in eine zentralisierte Datei einzuschreiben, wären auch bereit, nur die Entnahme einzelner Organe, Gewebe oder Zellen zu bewilligen.»

Also 82,57% (85,3% der 96,8%) statt «Über 85%» und 14,23% (14,7% der 96,8%) statt 14,%. Wodurch es dann richtigerweise «weniger als 83%» heissen müsste.

Auf die Berechnung der Differenz, die sich aus dem Verhältnis der 5.394 Befragten zu den 200.000 (400.000 / 600.000) nicht antwortenden Versicherten ergibt, wollen wir an dieser Stelle verzichten.

Fazit

Mal abgesehen davon, dass wir jetzt wissen, dass 194.606 (97,3%) von 200.000 befragten Versicherten sich nicht genug für dieses Thema interessieren, um sich 5 Minuten Zeit für die Beantwortung der drei Fragen zu nehmen, bleibt nicht viel Aussagekräftiges zurück.

Ausser vielleicht die Fragen, was das Ganze soll. Warum eine Versicherung so etwas nötig hat. Und wie genau man weitere Zahlen im Fall einer Volksinitiative betrachten muss.

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Autor:
Datum: Freitag, 7. September 2012 10:23
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